Chemie-Arbeitsblatt _ _ Klasse _ _ _ Name __________________________________________Datum _ _ ._ _._ _

Salpetersäure

Das Problem der Ammoniaksynthese hatten Haber und Bosch gelöst; noch immer fehlte aber ein Weg zur künstlichen Herstellung von Salpetersäure, der zweiten wichtigen stickstoffhaltigen anorganischen Grundchemikalie, für die bis in unser Jahrhundert Chilesalpeter die Rohstoffbasis bildete.

Ähnlich wie man aus Kochsalz mit Schwefelsäure Salzsäuregas (Chlorwasserstoff) in Freiheit setzen kann, erhielt man durch Umsetzung von Salpeter mit Schwefelsäure (neben Natriumbisulfat) Salpetersäure. Die hierfür erforderliche Anlage gleicht im Prinzip den schon besprochenen Anlagen zur Salzsäuregewinnung: In liegenden gusseisernen Zylindern, die von außen beheizt wurden, ließ man Schwefelsäure auf Salpeter einwirken; die aus der Retorte abziehenden Säure- dämpfe wurden in einer Reihe hintereinander geschalteter Steinzeugtöpfe, den bereits erwähnten Tourils, kondensiert. Wie bei der Salzsäurekondensation wurden die aus dem Touril-System abziehenden Restgase in einfache Rieseltürme geschickt und im Gegenstrom mit Wasser ausgewaschen, wobei verdünnte Salpetersäure anfiel.

Auf die Dringlichkeit einer weiteren Methode zur Salpetersäureherstellung wies Haber in einem Schreiben an die BASF vom 13.Dezember l913 hin: „Ich benutze die Gelegenheit, um Ihnen mitzuteilen, dass die Deutsche Landwirtschafts- Gesellschaft mich gebeten hat, der Aufmerksamkeit Ihrer Firma die Umwandlung von Ammoniak in Salpeter ganz be- sonders nahe zulegen. Nach meinem Eindruck glaubt die Deutsche Landwirtschafts-Gesellschaft, Salpeter in jedem Umfang unterbringen zu können, während sie sich dessen für das Ammoniak nicht getraut."

Diese Aufgabenstellung war nicht neu. Der französische Chemieprofessor und Industrielle Friedrich Kuhlmann (1803-1881) hatte schon 1838 entdeckt, dass Ammoniak in Gegenwart eines Platinkontaktes zum Stickoxid, der Vorstufe von Salpetersäure oxidiert wird. Damals war aber Ammoniak aus Preisgründen kein geeigneter Rohstoff zur Herstellung von Salpetersäure, und so geriet das Verfahren in Vergessenheit.

Im November 1901 wandte sich der große deutsche Physikochemiker Wilhelm Ostwald (1853-1932) an die Industrie, u. a. auch an die BASF, und schlug ein Verfahren zur Oxidation von Ammoniak mit Luft an Platinkontakten vor. Ostwald waren offensichtlich die Kuhlmannschen Arbeiten unbekannt geblieben, und seine Patentanmeldungen enthielten nichts Neues. Er benutzte als Reaktor dünne Rohre, in denen ein feines Platinnetz bandförmig aufgewickelt war. Das Platinverfahren wurde von ihm und seinem Mitarbeiter Eberhardt Brauer ausgebaut und ab 1906 für viele Jahre von den Chemischen Werken der Zeche Lothringen in Gerthe i. W. in bescheidenem technischen Maßstab auf Basis von Gaswasser durchgeführt. Endprodukt war Ammoniumnitrat, von dem 1908 bereits 695 t, 1911 schon 1495 t produziert wurden.
Auch bei der BASF beschäftigten sich Chemiker mit diesem Problem; die Firmenleitung hatte sich in Ludwigshafen von Beginn an das Ziel gesetzt, gebundenen Luftstickstoff nicht in Form von Ammonsulfat der Landwirtschaft als Düngemittel zur Verfügung zu stellen, sondern strebte „synthetischen Chilesalpeter" an. Bei der BASF lagen große Erfahrungen mit Katalysatoren vor; ähnlich wie das Ludwigshafener Forscherteam bei der Ammoniaksynthese sehr rasch von teuren Osmiumkontakten abging und Eisenmischkontakte entwickelte, wollte man auch im Gegensatz zum Kuhlmann-Ostwald- Verfahren die „Ammoniakverbrennung" an billigeren Kontaktmassen im großen Maßstab betreiben. Im Herbst 1913 wurden entsprechende Versuche aufgenommen, und bereits im Frühjahr 1914 hatte Christoph Beck (1887-1960) eine brauchbare Lösung gefunden: Ein schon bei der Ammoniaksynthese ohne Erfolg erprobter Eisenoxid-Wismutoxid- Katalysator zeigte gute Wirksamkeit; nach weiteren Versuchen erwies sich schließlich eine Eisenoxid-Wismutoxid- Manganoxid- Misch- Kontaktmasse als wirksamste Kombination.

War das ursprüngliche Arbeitsziel die Herstellung von Düngemitteln, so wurde die weitere Entwicklung durch die Kriegsereignisse in andere Bahnen gelenkt. Salpetersäure ist Grundstoff für die Herstellung von Explosivstoffen aller Art und damit für die Munitionsversorgung unentbehrlich. Als im Herbst 1914 die deutsche Heeresleitung nach der verlorenen Marneschlacht erkannte, dass ein „Blitzkrieg" außerhalb der militärischen Möglichkeiten des Deutschen Reiches lag und mit einem langen Krieg zu rechnen war, erfasste die verantwortlichen Stellen Panikstimmung: Durch die Blockade der Alliierten war Deutschland von der Zufuhr chilenischen Salpeters weitgehend abgeschnitten. Angesichts der geringen Salpetervorräte war die Munitionsversorgung der Truppe ernsthaft in Frage gestellt. Carl Duisberg schildert diese Situation und die Rolle der Chemie:
„Es fehlte der für Pulver und Sprengstoff durchaus unentbehrliche Rohstoff, der nur aus dem Auslande zu beziehende Salpeter. Schon im Herbst 1914 hatte die Sprengstoffindustrie davon nichts mehr. Hätte die chemische Industrie und besonders die Farbenindustrie und daneben die Landwirtschaft nicht große Vorräte an Salpeter gehabt, so wäre der Krieg schon Ende 1914 zu Ende gewesen. Aber auch diese Vorräte der chemischen Industrie und der Landwirtschaft, von denen wiederum das Kriegsministerium keine Ahnung hatte, und um die es sich vorher nicht im mindesten gekümmert und bemüht hatte, sie reichten nur bis Mitte 1915, dann waren wir ganz am Schluss, dann waren wir endgültig verloren. Da haben die deutschen Chemiker eingegriffen; sie haben alles daran gesetzt, was sie konnten, um diesen frühzeitigen Zusammenbruch zu verhindern" (Flechtner, 1959, S. 270).

Im September 1914 wurde Bosch zu einer Besprechung über die Munitionsfrage ins Kriegsministerium in Berlin gebeten; im Anschluss daran stellte er an seinen Mitarbeiter Alwin Mittasch (1869-1953) die Frage, ob er eine großtechnische Salpetersäureherstellung ohne Platinkontakte für möglich halte. Mittasch bejahte diese Frage, und Bosch konnte nun sein „Salpeterversprechen" an die Oberste Heeresleitung geben.
Ein erster Versuchsbetrieb mit dem als „Braunoxid-Kontakt" bezeichneten neuen Katalysator arbeitete bereits Weihnachten 1914, und im Mai des folgenden Jahres lief die Großproduktion mit einer Tageskapazität von 150 t Salpetersäure an. Die für die „Ammoniakverbrennung" eingesetzten Kontaktöfen bestanden aus zylindrischen, innen ausgemauerten Behältern von etwa 5 m Höhe und besaßen im Innern eine gelochte Steinplatte, auf der sich die Kontaktmasse befand. Luft und Ammoniakgas wurden im richtigen Verhältnis gemischt, auf 250 bis 350 °C vorgeheizt und dann in den Kontaktofen eingeblasen, wo die Reaktion stattfand. Der Ofen wurde dabei von oben nach unten durchströmt. Die abströmenden heißen Gase wurden gekühlt und in die Absorptionsanlagen geschickt. Absorptionsanlagen sind im Prinzip Füllkörperkolonnen, in denen sich im Gegenstrom zueinander Wasser und nitrose Gase aus der Kontaktofenanlage bewegen. Auf diese Weise gelangt man zur Salpetersäure.

Es sei zum Schluss bemerkt, dass bei den späteren Erweiterungen von Salpetersäureanlagen nach dem Krieg wieder auf Edelmetallkatalysatoren übergegangen wurde und nach einer auf die amerikanischen Firmen E.I. du Pont de Nemours&Co. und Baker&Co. zurückgehende Erfindung Netze aus einer Platin-Rhodium-Legierung eingesetzt wurden, die noch heute als Standardkatalysatoren dienen.

Wie bereits erwähnt, stellte das neue Salpetersäureverfahren einen wesentlichen Beitrag der Chemie zur Kriegsführung dar, denn die Versorgung des deutschen Heeres mit Munition war damit gesichert. Deshalb wird häufig der Vorwurf laut, dass erst durch die chemische Industrie die Kriegsführung bis zum Zusammenbruch 1918 ermöglicht wurde und die Skrupellosigkeit dieses Industriezweiges sich hier besonders deutlich zeige. Das gilt auch für die Kriegsführung mit Kampfgasen im Ersten Weltkrieg.
Dazu ist zu sagen, dass Wissenschaft, Forschung und Technik nicht im luftleeren Raum geschehen, sondern jeweils eingebunden sind in eine bestimmte Gesellschaft und deren Werthaltungen. Besonders krass stellt sich in diesem Zusammenhang die Frage nach der Verantwortung des Wissenschaftlers im Kriegsfall. Das zeigt der „Aufruf an die Kulturwelt" vom 4.10.1914, in dem sich 56 Professoren, darunter die Elite der deutschen Naturwissenschaftler, zum Fürsprecher des deutschen Militarismus machten.
„Durch ihren geistigen Kriegseinsatz desavouierten die Professoren die von ihnen beanspruchte und immer wieder betonte Position des Gelehrten als über den Parteien und den gesellschaftlichen Interessen stehend ... (Böhme, 1975, S. 32)."

Es fehlt nicht an Beispielen, die die Kriegsbegeisterung von Wissenschaftler illustrieren; so erklärte der deutsche Nationalökonom Sombart: „Der Krieg, so schien es, verlieh auch der Technik einen neuen Sinn, und [der Nationalökonom] Sombart erklärte: „Die 42-cm-Mörser ..., die bombenwerfenden Flugapparate, die Unterseeboote haben uns wieder einen Sinn des technischen Fortschrittes offenbart.. ." (Schwabe, 1969, S. 39).
„Die Ernüchterung kam mit dem Ende des Ersten Weltkrieges; selbst Carl Duisburg bekannte 1919: Wie heute die Lage ist, war es sicherlich für uns alle Besser, wir hätten uns nicht so angestrengt, oder es wäre uns nicht gelungen [die Lösung des Salpeterproblems]. Dann wäre der Krieg schon bald nach seinem Ausbruch zu Ende gewesen. Damit wäre sowohl für uns als auch für die ganze Kulturwelt, vor allem für diejenige Europas, jener traurige Zustand vermieden worden, unter dem wir heute alle leiden, nicht nur wir, sondern auch die anderen Völker» (Flechtner, 1959,S.273).

Fragen zum Text:

1. Welches Verfahren benutzte man vor der Ammoniak-Verbrennung, um Salpetersäure zu gewinnen?
2. Warum geriet das Kuhlmann-Verfahren in Vergessenheit?
3. Was ist der Kern des Ostwald-Verfahrens?
4. Welche Momente führten bei der BASF zum technischen Erfolg des Ostwald-Verfahrens?
5. Welches politische Ereignis hat dem BASF-Verfahren zum Durchbruch verholfen?
6. Welche Verfahrensschritte beinhaltet die Ostwaldsche Ammoniakverbrennung?
7. Welche Rolle bzw. Funktion haben Personen wie Haber, Ostwald, Beck, Duisberg, Mittasch übernommen?

Auszug, leicht verändert, aus: Dieter Osterroth: Soda, Teer und Schwefelsäure; Der Weg zur Großchemie, rororo 1985, Hamburg

 

update am 02.02.2021                                                                                              zurück       zur Hauptseite